Leben mit Krebs: Erfahrungen des Psychoonkologen Dr. Bram Kuiper
„Meine Erkrankung fühlt sich an wie ein Aufenthalt in einem für mich unbekannten Land“, schrieb mein Vater in sein Tagebuch, nachdem er 1985 an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war. Als Arzt wusste er bereits bei der Diagnose, dass er nicht mehr gesund werden würde. Meine Mutter, meine zwei Schwestern, meine zwei Brüder und ich selbst umgaben ihn mit Aufmerksamkeit, Liebe und Unterstützung.
Wie in einer fremden Welt
Auch für mich fühlte es sich an wie ein Aufenthalt in einer fremden Welt. Es war meine erste eindringliche Erfahrung mit Krebs. Ich war 29 Jahre alt und arbeitete als klinischer Psychologe. Mit der Zeit wurde diese fremde Welt für mich jedoch immer vertrauter. Zwei Jahre später, 1987, begann ich am Free University Medical Center in Amsterdam zu arbeiten. Es war für mich selbstverständlich, auch in der Onkologie-Abteilung tätig zu sein. Dort begleitete ich Krebspatient:innen jeden Alters und mit unterschiedlichsten Prognosen sowie ihre Angehörigen. Es fühlte sich wie bekanntes Terrain an. Später, im Jahr 2000, wurde ich Geschäftsführer des Helen Dowling Instituts (HDI), einem renommierten psychoonkologischen Zentrum in den Niederlanden. Das HDI unterstützt Krebspatient:innen und ihre Angehörigen dabei, die Krankheit emotional zu verarbeiten und sich an die neue Lebenssituation anzupassen.
Das Leben beschleunigt und steht still zugleich
Von allen Menschen, die ich jemals psychologisch betreut habe, waren die Krebspatient:innen am offensten. Es schien, als würde der Druck, unter dem sie standen, all ihre Schüchternheit auflösen. Das Leben beschleunigte sich, während es gleichzeitig stillstand. Mit ihnen sprach ich über den Schock der Diagnose, die Angst vor dem Sterben, das Abschiednehmen, über Versehrtheit und Behinderungen. Aber auch darüber, wie man Entscheidungen trifft, neue Wege geht und das Leben feiert. Dabei wurde klar, dass “das Leben das ist, was dir passiert, während du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen” (Zitat von Allen Saunders).
Fragen über Fragen
Im Laufe der vergangenen 37 Jahre habe ich die enorme Auswirkung von Krebs auf das physische, emotionale und soziale Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen erfahren. Was habe ich dabei gelernt? Dass es in der Onkologie im Wesentlichen um die Frage geht: „Da sein“ oder „nicht da sein“? – wörtlich und im übertragenen Sinne – für alle, die mit Krebs zu tun haben.
Es gilt für alle Menschen, die Krebs haben. Früher oder später stellen sich viele die Frage: Wie lange werde ich noch leben, wie lange werde ich noch „da sein“? Und es drängt sich eine zweite Frage auf. Die Frage nach der Lebensqualität: Wie möchte ich leben, wie möchte ich „da sein”, solange ich lebe? Was will ich noch und was möchte ich nicht mehr? Durch die Konfrontation mit Krebs überprüfen Menschen ihre Wünsche und Grenzen. „Nicht da sein“ impliziert im übertragenen Sinne das Fehlen von Lebensqualität. Menschen mit Krebs wollen wörtlich und im übertragenen Sinne „da sein“.
Es ist wichtig, da zu sein
Die Frage „Da sein“ oder „nicht da sein?“ gilt aber auch für alle, die in der Onkologie tätig sind: Onkolog:innen, Pflegekräfte, Therapeut:innen und viele andere. Wörtlich, dass man ausreichend präsent ist und die beste Versorgung bietet – das ist das Mindeste. Gleichzeitig auch im übertragenen Sinne „da sein“. Pflegekräfte sollten aufmerksam präsent bei den ihnen anvertrauten Patient:innen sein. Menschen mit Krebs erleben eine existenzielle Krise und spüren meiner Erfahrung nach unfehlbar, ob ein Helfer oder eine Helferin mit aufrichtiger Aufmerksamkeit beteiligt ist oder nicht. Erst wenn Pflegekräfte „da sind“, können sie ihre Patient:innen wirklich dabei unterstützen, in dem für sie fremden, unbekannten Land „da sein“ zu können – wörtlich und im übertragenen Sinne.
Dr. Bram Kuiper ist seit 1987 als klinischer Psychologe in verschiedenen Bereichen der Onkologie tätig. Unter anderem war er 17 Jahre lang Geschäftsführer am Helen-Dowling-Instituut (HDI), der ältesten und größten psychoonkologischen Einrichtung der Niederlande.
Mit dem digitalen Therapieprogramm Untire möchte er weltweit möglichst vielen Patient:innen helfen, die an tumorbedingter Fatigue leiden. Bram ist Mitgründer und CEO von Tired of Cancer, dem Unternehmen, das hinter der Untire-App steht.